* 35 *

Septimus und Syrah traten in einen breiten, aus Ziegelsteinen gemauerten Gang, den die gleichen zischenden Lampen erhellten, die Ephaniah Grebe in den Kellergewölben des Manuskriptoriums bevorzugte.
Es wurde mit jedem Schritt kälter, und Septimus sah, wie sein Atem in der Luft gefror. Er konzentrierte sich auf seinen Gedankenschirm – auf den Spaziergang, den er im vergangenen Jahr mit Lucy Gringe auf dem Außenpfad unternommen hatte. Er fragte sich, warum er jetzt ausgerechnet daran denken musste, bis ihm dämmerte, dass ihn dieser Gang ins Ungewisse in allergrößte Schwierigkeiten gebracht hatte. Er hatte das ungute Gefühl, dass es ihm heute ähnlich ergehen könnte. Er blickte auf seine Oberlehrlingsstreifen, deren magischer Glanz trotz der vielen Flecken noch zu sehen war, und er sagte sich, dass er es schaffen konnte, ganz gleich was er jetzt zu tun bekam. Immerhin war er der einzige Lehrling, der jemals die Queste vollendet hatte.
Der Gang krümmte sich stetig nach links, und nach ein paar Minuten gelangten sie an eine breite Treppe, die abwärtsführte und an einer stabilen Wand endete, die aus demselben schwarz glänzenden Material bestand wie die bewegliche Kammer. Septimus machte das Rechteck einer breiten Tür aus, die darin eingelassen war, und vermutete, dass sie fast am Ziel waren.
Als sie die Stufen hinabstiegen, ertönte plötzlich Syrahs tiefe Sirenenstimme: »Der Junge darf nicht weiter.«
Septimus erstarrte.
Syrah schüttelte den Kopf. Verzweifelt winkte sie ihm weiterzugehen, doch ihre Sirenenstimme befahl: »Bleib zurück! Lass die Finger von der Tür!«
Septimus trat zurück. Nicht weil er der Stimme gehorchte, sondern weil zwischen Syrah und ihrem Besetzergeist offenbar eine Art Streit entbrannt war, und er wollte Abstand wahren. Er sah, wie Syrah mit einer seltsam ruckelnden Bewegung nach einer abgenutzten Klappe neben der Tür griff und wie sich die Muskeln an ihren Armen unter großer Anstrengung anspannten, als sie die Hand auf die Klappe drückte. Ein Zischen ertönte. Langsam öffnete sich die Tür, und Syrah ging weiter wie eine Pantomimin, die gegen einen scheinbaren Sturm ankämpft. Mit großer Beklommenheit folgte Septimus.
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Ein leises Klicken durchschnitt die Luft, und ein blaues Licht ging an. Septimus stockte der Atem. Sie befanden sich in einer sehr hohen Höhle, die tief in den Fels gehauen war. Über ihm hingen lange Stalaktiten, die in dem unwirklich blauen Licht glitzerten. Und zu seinen Füßen war die größte Eistunnelluke, die er je gesehen hatte. Er war bestürzt.
Es war nicht die enorme Größe der Luke, die ihn bestürzt machte, sondern die Tatsache, dass sie unter Wasser stand. Wie eine Insel ragte der gewölbte Lukendeckel aus einem sandig grauen See, der den gesamten Höhlenboden bedeckte. Zum allerersten Mal sah er eine Eistunnelluke ohne schützende Eisschicht, und sie bot einen imposanten Anblick. Sie war aus massivem, dunkel gefärbtem Gold gefertigt und in der Mitte mit einer erhabenen Siegelplatte aus Silber versehen. Der goldene Teil trug eine lange Inschrift aus dicht gedrängten Buchstaben, die an der Siegelplatte begann und dann spiralförmig bis zum Rand führte.
Syrah deutete mit zitterndem Zeigefinger auf die Luke. Ihre andere Hand griff ihr an den Hals, ließ wieder los, packte ihren Zeigefinger und drückte ihn nach unten. Jetzt begriff Septimus, was Syrah von ihm wollte: Er sollte mit dem Schlüssel die Luke versiegeln. Er wusste nicht, warum es hier einen Eistunnel gab, und er wusste auch nicht, warum die Luke nicht versiegelt war, aber eins wusste er: Er musste schnell handeln. Syrah verlor die Gewalt über sich. Rasch nahm er den Alchimieschlüssel vom Hals, kniete sich in das eiskalte Wasser und hielt den Schlüssel über die Versiegelungsplatte. Er spürte Syrahs Blick in seinem Nacken und schaute auf. Ihre weißen Augen beobachteten ihn mit dem Ausdruck einer Wolverine, die zum Sprung ansetzt.
Plötzlich warf sie sich auf ihn und entriss ihm den Schlüssel. Er sprang auf, und dann geschah etwas Seltsames: Syrah, deren Muskeln noch von dem Kampf gegen den Willen der Sirene zitterten, legte ihm den Schlüssel ganz ruhig in die Hand zurück und formte mit den Lippen die Worte Lauf, Septimus, lauf. Im nächsten Moment wurde ihr Körper von einer inneren Kraft zu Boden geworfen, und sie fiel der Länge nach in den See aus geschmolzenem Eis.
Eine Sekunde lang stand Septimus unschlüssig da und überlegte, ob er Syrah irgendwie retten konnte, aber dann sah er einen verräterischen blauen Dunst von ihrer mit dem Gesicht nach unten liegenden Gestalt aufsteigen. Er kam wieder zur Besinnung und schlug mit der flachen Hand auf die abgenutzte Klappe in der schwarzen Wand. Zischend fuhr die Tür auf. Er sah, wie hinter ihm der Besetzergeist aus Syrah emporwuchs wie ein Krebs, der sich aus seiner Schale pellte, und rannte los.
Betend, dass sich die Tür wieder schloss, bevor die Sirene sie erreichte, sauste er mit klappernden Stiefeln die Steintreppe hinauf. Oben angekommen, drehte er sich um und sah, wie sich der Geist der Sirene durch den immer kleiner werdenden Spalt quetschte. Er hatte genug gesehen. Er preschte durch den gekrümmten Backsteingang, der kein Ende zu nehmen schien, doch schließlich tauchte die schwarz glänzende Wand der beweglichen Kammer vor ihm auf. Er musste zusehen, dass er in die Kammer kam und die Tür rechtzeitig schloss. Das war seine einzige Chance.
Schlitternd kam er vor der kahlen Wand zum Stehen. Wo war die Tür?Er atmete tief durch – konzentriere dich, konzentriere dich!Dann endlich entdeckte er die abgegriffene Stelle, auf die Syrah ihre Hand gelegt hatte. Er drückte seine Handfläche darauf, das grüne Licht erglühte, und die Tür glitt auf. Er sprang hinein und drückte die Hand auf die entsprechende Stelle auf der anderen Seite. Die Tür begann gerade, sich zu schließen, als die Sirene hinter der letzten Biegung des Gangs auftauchte. Sie war so nahe, dass er sie deutlich sehen konnte – ihre langen feinen Haare, die wie in einem geisterhaften Wind wehten, ihre milchigen Augen, die ihn anstarrten, ihre schmalen knochigen Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Es war ein grauenerregender Anblick, aber etwas anderes war noch schlimmer. Vor ihr rannten Jenna und Beetle – und sie riefen »Warte, Septimus! Warte!«
Bevor er etwas tun konnte, war die Tür zu.
Septimus merkte, dass er zitterte. Von der anderen Seite der Tür hörte er Jenna und Beetle schreien: »Hilfe! Lass uns rein!«
Er wusste, dass es nur eine Projektion war. Jenna und Beetle sahen genauso aus, wie er sie auf seinem Gedankenschirm hatte erscheinen lassen. Beetle trug die Uniform des Manuskriptoriums und nicht seinen schicken neuen Admiralsrock, den er seit Tagen ununterbrochen anhatte. Dennoch jagte Septimus die Projektion einen gewaltigen Schrecken ein. Die Sirene war mächtig – sie konnte Projektionen sprechen lassen.
Jetzt musste er schleunigst die Kammer in Gang setzen. Ohne dem Flehen der Projektionen Beachtung zu schenken, ging er zu dem orangefarbenen Pfeil, doch als er sich bückte, um darauf zu drücken, begann der Gesang der Sirene.
Septimus war wie gelähmt. Seine Hand fiel schlaff herab, und er wollte nur noch eines: diesem Gesang, dem schönsten der Welt, zuhören. Wie, so fragte er sich, hatte er ohne ihn leben können? Nichts, gar nichts, hatte ihm jemals so viel bedeutet. Er war wunderschön. Der Gesang schwebte durch die Kammer und erfüllte sein Herz und seine Seele mit einem Gefühl der Freude und Hoffnung, denn gleich, wenn er die Tür öffnete und die Sirene hereinließ, würde sein Leben vollkommen sein. Dies war alles, was er sich jemals gewünscht hatte. Traumverloren kehrte er zu der Tür zurück.
Während er nach der Öffnungsklappe griff, stiegen herrliche Bilder vor seinem geistigen Auge auf: Bilder von endlosen Tagen an sonnigen Stränden, an denen er genüsslich in warmen grünen Meeren schwamm, Bilder der Fröhlichkeit, Freude und Freundschaft. Er war von allen Menschen umgeben, die er liebte – sogar Marcia war da. Was allerdings etwas merkwürdig war, wie ihm plötzlich in den Sinn kam. Wollte er Marcia wirklich hier bei sich auf der Insel haben? Ein Bild von Marcia stieg vor ihm auf, wie sie ihn missbilligend ansah, und für eine kurze Sekunde verbannte es den Gesang der Sirene aus seinem Kopf.
Diese Sekunde genügte. Sich Bilder von Marcia in ihren grimmigsten Momenten vor seinem inneren Auge erzeugend – was leicht war, denn die Auswahl war groß –, kehrte Septimus flugs zu dem orangefarbenen Pfeil zurück und drückte fest darauf. Während ihm Marcia eine Gardinenpredigt hielt – Kommst du wieder zu spät, weil du dich auf dem Hof hinter dem Manuskriptorium herumgedrückt und mit Beetle dieses ekelhafte Zeug getrunken hast, wie heißt es noch mal – Blubberbrühe? Und falls du dir einbildest, du hättest das Recht, die Treppe in den Notfallbetrieb zu versetzen und all die fleißigen Zauberer bei der Arbeit stören, dann befindest du dich gewaltig im Irrtum –, machte die Kammer einen Ruck. Septimus rutschte der Magen wieder in die Kniekehlen, und er wusste, dass er aufwärtsfuhr.
Septimus verbrachte die Fahrt in Gesellschaft einer zornigen Marcia, die in Marcellus Pyes Haus gestiefelt kam und zu wissen verlangte, was er hier verloren habe, bis die Kammer schließlich zum Stehen kam. Er drückte auf die Klappe, die Tür fuhr auf, und, begleitet von einer Marcia, die sich über Feuerspeis Stubenreinheit oder, besser gesagt, über seine nicht vorhandene Stubenreinheit beklagte, rannte er los. Im Rennen hörte er die Stimme der Sirene, die von unten herauf schrie: »Ich werde dich suchen, Septimus, und ich werde dich finden ...«
Er flitzte die schmale Fluchttreppe hinauf, die in das Gestein der Klippe gehauen war, und schlüpfte durch eine Geheimtür in den Kieker. Das X, das er in den Lehmboden gekratzt hatte, war noch da. Er holte tief Luft und rannte direkt auf die scheinbar stabile Wand dahinter zu. Im nächsten Augenblick stand er im weichen Gras oben auf der Klippe und sog die frische warme Luft ein.
Syrah hatte die Wahrheit gesagt.